Kommentar – Mangel an Führungskompetenz – oder an führbaren Verhältnissen?

„Der Ärzteschaft mangelt es an Führungskompetenz“, ist ein Vorwurf, den man in Krankenhäusern häufig hört. Aber wenn man genauer hinsieht, liegt das Problem nicht immer beim Verhalten Einzelner.

Barbara arbeitet seit acht Monaten als angestellte Fachärztin in einem medizinischen Versorgungszentrum im Raum Hannover. Vom Krankenhaus hat sie genug gehabt, berichtet sie mir an einem Kongress. Dort war sie zuletzt Oberärztin in einer Abteilung mit etwa 35 Ärztinnen und Ärzten. Nach zwei Jahren hat sie „das Handtuch geworfen“. Was sich seitdem geändert hat? Unter anderem hat sie jetzt wieder Appetit. Sie ist die hartnäckige Gastritis endlich los.

Nicht nur an dieser Stelle zeigt Barbara den für Ärztinnen und Ärzte im Klinikbetrieb typischen, zynischen Witz. Nach ihrem Werdegang gefragt, erzählt sie mehr. Sie ist 41 Jahre alt und hat sowohl ihr Studium als auch die Weiterbildungszeit im Galopp durchlaufen. Kurz nach der Prüfung zur Fachärztin für innere Medizin und Kardiologie bekam sie eine Tochter. 14 Monate später fing sie bereits wieder an zu arbeiten. Mit ihrem Engagement und der guten klinischen Arbeit konnte sie auch die Chefetage von sich überzeugen. Es wunderte also niemanden in der Abteilung, dass ihr die nächste freie Oberärztinnenstelle zugesprochen wurde. 

Das gehört halt dazu. 

Barbara nahm das Angebot an – durchaus mit einem gewissen Stolz. Ihre harte Arbeit, ihr Engagement für die Klinik und die vielen Überstunden wurden honoriert. Auf der Stelle, die Barbara übernahm, saß zuvor Michael, der nun in den Ruhestand ging. „Michael hat ja auch das Personalzeug gemacht“, war die Formulierung der Chefin gewesen. „Übernimmst du das bitte mit?“ Diese halbe Frage, halbe Anordnung wurde Barbara während der Vertragsunterzeichnung zugeworfen. Natürlich sagte sie zu. Parallel zur Übernahme der Herzinsuffizienzambulanz. Das gehört halt dazu.

Führung im Krankenhaus: Wer soll das alles schaffen?

Viele Dinge blieben dann erstmal liegen, sagte Barbara. Der Artikel für den Fachkongress wurde auf Eis gelegt, die Abstände der Treffen ihrer Arbeitsgruppe wurden immer länger. Zur Chorprobe schaffte sie es kaum noch. Die ersten Monate verbrachte sie vor allem damit, einen tieferen Sinn in den chaotischen Exceltabellen von Michael zu suchen. Hier wurden noch Mitarbeitende geführt, die die Abteilung längst verlassen haben. Die Folge: es wurde niemand neues eingestellt. Nachdem sie um 17 Uhr ihren letzten Patienten in der Ambulanz gesehen hat, setzte sie sich also an den Schreibtisch und schrieb Dienstpläne, führte Mitarbeitendengespräche, stellte Personalanträge.

Um die vielen Patientinnen und Patienten mit dem wenigen Personal zu versorgen, nutzte sie ganz unterschiedliche Führungsmittel: mal versuchte sie, mit Moralappellen zu überzeugen, mal ging sie mehr oder weniger legitime Tauschgeschäfte ein, um die Besetzung der nächsten Tage zu sichern. Ob der Artikel eigentlich schon fertig ist, rief ihr die Chefin auf dem Flur wenige Wochen später zu. „Bin dabei…“

Die Lage wurde nicht besser. Der Artikel blieb liegen. Die Chefin wurde immer unzufriedener. Es gingen zunehmend weniger Bewerbungen ein oder sie wurden zurückgezogen. Kein Wunder, denn zwischen Ambulanz, Dienstgeschäft, Personalarbeit schaffte sie es nicht, die Bewerbungsmappen innerhalb von zwei Wochen anzuschauen, geschweige denn, jemanden zum Gespräch einzuladen.

Auswirkungen von hoher Belastung sind unumgänglich

Auch kollegial wurde die Situation schlechter: Mit ihren oberärztlichen Kolleginnen und Kollegen hatte sie Streit, weil alle ihre jeweiligen Bereiche vom Dienstplan benachteiligt sahen. Die Assistentinnen und Assistenten sowie Fachärztinnen und Fachärzte waren genervt, denn die ganzen Überstunden und das Durcheinander in der Urlaubsplanung wurden natürlich auf ihr Unvermögen zurückgeführt.

Barbara bemerkte, wie sie eine Patientin in der Ambulanz wegen eines fehlenden externen MRT-Befundes scharf anging und den eigentlich sympathischen und fähigen Assistenzarzt, der das Erstgespräch geführt hatte, am Aufnahmetresen zu Schnecke machte. Immer wieder ertappte sie sich bei zynischen Gedanken darüber, ob der Vorstand mit der Aufforderung zur „transformationalen Führung“ eigentlich von Maschinen und nicht von Menschen ausgegangen war. Immerhin, schließt sie ab: „Dank dem Stress habe ich fünf Kilo abgenommen.“

Über den Autor

Dr. Julian Blanz ist Facharzt für Anästhesiologie. Neben seiner klinischen Tätigkeit am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf beschäftigte er sich mit Personalarbeit, Personalentwicklung, Organisations- und Prozessgestaltung, zum Teil als Bestandteil des Personalteams seiner Abteilung, zum Teil in klinikweiten Arbeitsgruppen. Strategischen Personalarbeit durch leitende Ärztinnen und Ärzte war auch das Thema seiner MBA-Masterthesis. Heute ist er als Senior Consultant in der Strategie- und Organisationsberatung Metaplan tätig.

Nach zwei Jahren als Oberärztin bekommt Barbara dann das Angebot aus einem MVZ. Dort verdient sie mit einer 32 Stunden Woche dasselbe wie bei 40 Stunden auf dem Papier – und teils 60 Wochenstunden in der Realität. Sie nimmt an. Die Medizin am Krankenhaus fehlt ihr zwar, Mann und Tochter finden es aber wesentlich besser. Was bleibt ist das Gefühl, gescheitert zu sein. Da hilft es auch wenig, dass eine ehemalige Kollegin, mit der Barbara noch befreundet ist, berichtet, dass es unter dem neuen Personaloberarzt auch nicht besser ist.

„Ärztinnen und Ärzte scheitern wegen ihrer Führungskompetenzen“

Barbaras Erzählung rief mir einen Satz in Erinnerung, den ein Chefarzt mir gegenüber einmal in einem Gespräch über Personalmanagement durch leitende Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus formulierte: „Die meisten leitenden Ärztinnen und Ärzte scheitern in ihrem Beruf nicht aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz, sondern wegen ihrer Führungskompetenzen.“

Seine Einschätzung kann als stellvertretend dafür gesehen werden, wie über das Thema Führung in Krankenhäusern nachgedacht wird. Der Erfolg oder Misserfolg von Führungspersonen wird an ihre persönlichen Attribute geknüpft. Erfolgreiche Führungskräfte sollten also empathisch, fair, charismatisch, motivierend, unterstützend, authentisch, kommunikativ, entscheidungsfreudig, team- und natürlich zielorientiert sein. 

Der Erfolg oder Misserfolg von Führungspersonen wird an ihre persönlichen Attribute geknüpft. 

Die naheliegende Konsequenz dieser Zuordnung ist, dass Krankenhäuser keine unerheblichen Summen in persönlichkeitsfokussierte Führungskräfteentwicklung oder Coachings investieren. Das aufgrund von fachlicher Exzellenz beförderte Personal soll – so gut es geht – die charakterliche Weiterentwicklung zur Führungskraft durchmachen. Die Beschreibung eines Fortbildungsprogramms spiegelt diese Personenzentrierung wider. „Im Fokus des 10-tägigen Intensivprogramms „Ärztliche Führung“ steht die Führungsperson selbst“, heißt es darin.

Wenn man also davon ausgeht, dass es eine Sache der Person ist, kann man fragen: Woran hat es Barbara gemangelt? Hat sie nicht ausreichend kommuniziert oder delegiert? Hat sie zu wenig Empathie gezeigt, nicht gut im Team gearbeitet, zu autoritär geführt oder Konflikte nicht zufriedenstellend gelöst?

Problematisches Verhalten ist bei zweitem Blick ganz rational

Meine These ist, es ist nichts dergleichen. Denn dafür ist Barbaras Werdegang zu typisch. Das Scheitern an den Ansprüchen, die Überforderung durch die unterschiedlichen zu schulternden Aufgabenpakete und das Ausbrennen beim Versuch, dennoch alles zu schaffen, ist ein Muster, das sich gerade bei ehrgeizigem, motiviertem medizinischen Krankenhauspersonal immer wieder zeigt. Wo es Muster in Verhalten gibt, lohnt es sich, vom Blick auf den Einzelnen Abstand zu nehmen. Stattdessen werden die Verhältnisse interessant, in denen das Verhalten gezeigt wird – weil die Verhältnisse dieses Verhalten erst motivieren.

Assistenzärztinnen und Assistenzärzte, die nicht mehr bereit sind für ihre kranken Kolleginnen und Kollegen einzuspringen, sind also vielleicht nicht einfach faul oder denken nur an ihre Work-Life-Balance. Möglicherweise haben sie beobachtet, dass ein Einspringen von ihrer Chefin oder ihrem Chef kaum wahrgenommen und dementsprechend auch nicht honoriert wird. Nutzen sie diese Zeit jedoch um den Artikel ihrer Oberärztin für den nächsten Kongress fertig zu schreiben, entgehen sie nicht nur dem Ärger des Forschungsgruppenleiters, sondern dürfen diesen vielleicht sogar auf den Kongress begleiten und so wiederum ihr Ansehen bei der forschungsbegeisterten Klinikleitung verbessern. Ihr Verhalten ist also innerhalb der schwierigen Verhältnisse absolut rational.

Verhalten verstehen – aber Verhältnisse bearbeiten

Es soll hier nicht kategorisch ausgeschlossen werden, dass es auch Persönlichkeiten gibt, denen ein Coaching hilft, um bessere Führungskräfte zu werden. Doch sollte bei der Schilderung auffallen, dass auch ausgeprägte Begeisterungsfähigkeit, Empathie oder Fairness einer Führungskraft nicht helfen, solche auf Dauer gestellten Probleme zu bearbeiten. Was aber hilft, ist ein Verschieben der Perspektive: Weg von den scheinbaren Problemen der Führungskräfte. Hin zu den faktischen Problemen; nämlich dem Mangel an Einflussmitteln und Gestaltungsmöglichkeiten.

Als Einflussmittel kann man alles verstehen, was einer Führungskraft zur Verfügung steht, um wirklich in Führung zu gehen. Die Position auf dem Organigramm bedeutet im Alltag noch gar nichts. Da ist die (Dienst-)Anweisung das schwächste aller Führungsmittel. Wer ständig betonen muss, dass er oder sie das Sagen hat, findet bald niemanden mehr, der zuhören will. Es gilt, den Führungskräften mehr Möglichkeiten der Incentivierung an die Hand zu geben als jene, die sie selbst geschaffen haben: Formale Möglichkeiten, deren Einsatz nicht unmittelbar ein Verstoß mit der Dienstverordnung bedeuten.

Ein Strukturwandel ist teuer – aber notwendig

Die Gestaltungsmöglichkeiten müssen für Führungskräfte auf zwei Weisen erschlossen werden: Zum einen müssen sie selbst lernen, dass im Zentrum von ärztlicher Führung eben nicht die Führungsperson selbst steht – sondern die Verhältnisse im jeweiligen Arbeitsbereich. Sie müssen selbst das Verhalten ihrer Mitarbeitenden verstehen, die Ursachen für problematisches Verhalten analysieren können, um dann die Verhältnisse anzupassen. Diese Kompetenz sollte, begleitend zu medizinischen Inhalten, bestenfalls bereits vor Antritt einer Position mit Gestaltungsbefugnissen vermittelt werden. 

Gestaltungsbefugnisse dürfen nicht nur auf dem Papier bestehen. 

Zum anderen dürfen Gestaltungsbefugnisse nicht nur auf dem Papier bestehen. Eine Oberärztin oder ein Oberarzt, der oder dem Entscheidungsautonomie versprochen wurde, die einzige autonome Entscheidung dann aber ist, entweder seine Mitarbeitenden, oder sich selbst auszubrennen, kann darüber nur zynisch werden – oder gehen. Es ist Aufgabe des Klinikmanagements sowie der Chefärztinnen und Chefärzte sich genau anzuschauen, was Führungskräfte zum Verlassen ihrer Stellen bringt. Natürlich sind es jeweils persönliche Entscheidungen. Aber wieder: Die Summe an persönlichen Entscheidungen ergibt ein Muster. Das Muster deutet auf die strukturellen Ursachen, die hinter dem jeweiligen individuellen Verhalten stecken. An den strukturellen Ursachen, den schwierigen Verhältnissen, muss kluge Organisationsgestaltung ansetzen. Die Folgen davon, wenn dies nicht geschieht, sind bereits zu beobachten: Frustrierende Verhältnisse treiben Angestellte aus dem Krankenhaus.

Strukturwandel ist zwar teuer, viel teurer als Führungskräfte-Coachings. Aber selbst mit ganz nüchterner Kosten-Nutzen-Rechnung wird die hohe Fluktuation noch teurer. Der nicht bezifferbare Verlust an immanentem Wissen und Routine kommt noch dazu. Je stärker der Fachkräftemangel auch den medizinischen Bereich betrifft – Arbeitnehmende also weit mehr Alternativen als das Krankenhaus als Arbeitgeber haben – umso dringender wird es für Krankenhäuser, den Blick auf ihre Verhältnisse zu richten.

Quelle: Dr.med. Julian Blanz 2024. Thieme

 

Ein Klinikum soll so zugänglich sein wie möglich. Diesen Umstand machten sich mehrere Diebe in München jetzt zu Nutze und entwendeten teure medizinische Geräte aus einem Krankenhaus.

Vermutlich über die Notaufnahme verschafften sich zwischen dem 20. und 21 Juli Personen Zugang zum Harlachinger Krankenhaus in München. Die Unbekannten stahlen dabei medizinische Geräte im Wert von rund 400 000 Euro.

Die Polizei geht nach ersten Erkenntnissen davon aus, dass die Täter die Klinik durch die Notaufnahme betraten und von dort in die Untersuchungsräume weiterzogen. Dort nahmen sie den Angaben zufolge unter anderem endoskopische Geräte mit.

Wie es ihnen gelang, diese unbemerkt aus dem Krankenhaus zu befördern, war am 24. Juli zunächst unklar. Die Polizei ermittelt. 

Quelle: dpa/hnle