Der diesjährige DMEA-Besuch ließ Dr. Anke Diehl ratlos zurück. Warum klafft der schöne Schein innovativer Health-IT und die digitale Realität für Mitarbeitende und Patienten in Kliniken weiterhin so weit auseinander, fragt sie sich.
Beim Gang über Messen für digitale Gesundheitswirtschaft wie der DMEA, oder auch bei Produktvorstellungen von Unternehmen, kann man großartige innovative Systeme für digitale Medizin sehen. Alle werben mit perfekter Nutzerorientierung, die sowohl den Alltag der Mitarbeitenden als auch den der Patientinnen und Patienten nachhaltig verändern sollen. Manche Anbieter nutzen Künstliche Intelligenz (KI), andere erweiterte und virtuelle Realität, Robotik, neue medizintechnische Lösungen zur Datenerhebung etc. etc. – alles natürlich evidenzbasiert und in Echtzeit. Ein Schlaraffenland der Digitalmedizin wird aufgezeigt, welches sämtliche Versorgungsprobleme lösen könnte.
Die Betonung liegt allerdings auf „könnte“, denn die Realität der digitalen Transformation in der medizinischen Versorgung stellt sich hierzulande anders dar: Funktionierende nutzerorientierte digitale Lösungen sind seltene Inseln, KI in der Medizin ein Schreckgespenst und der Versorgungsalltag wird wie gehabt bestimmt von Telefonaten, Terminsuche Warteschleifen, CDs, Fax und dem allgegenwärtigen Papierkrieg. Entlastung oder gar Empowerment durch digitale Anwendungen? Fehlanzeige.
Es geht nicht um die bloße Einführung von Technologie, sondern um eine Transformation im Ganzen.
Digitalisierung spielte bei der Wahl eines medizinischen Berufs keine Rolle, vor allem nicht bei den heutigen Entscheidungsträgern der Generationen X und Baby Boomer. Die nachkommenden Generationen erlebten den digitalen Wandel unmittelbar in ihrer allgemeinen Lebenswelt, sodass hier die Diskrepanz zur nicht-digitalen medizinischen Versorgungsrealität wahrhaftig immens ist. Menschenorientierung ist in der Medizin das oberste Ziel und das ist beim Einsatz von interoperablen digitalen Tools ausdrücklich kein Widerspruch. Es geht nicht um die bloße Einführung von Technologie, sondern um eine Transformation im Ganzen. Diese fängt an bei der interdisziplinären Zusammenarbeit und erstreckt sich über neue Versorgungsformen bis hin zu einem veränderten Verhältnis zum Patienten, der besser informiert eine aktivere Rolle einnehmen kann als bisher.
Gesundheitsdaten bringen diagnostische Zusatzinformationen, deren Nutzung auch eine Erhöhung der Patientensicherheit beinhaltet. Gleichzeitig müssen alle Stakeholder bei der Entwicklung von Digitalisierung und KI in der Medizin beteiligt werden, um Nutzerorientierung und Qualität der Tools zu gewährleisten. Dies ist aufwändig, ermöglicht es aber sowohl Verzerrungseffekte (Bias) frühzeitig zu erkennen bzw. zu vermeiden, als auch das Vertrauen in die Anwendungen zu erhöhen und medizinethische Aspekte bereits in der Entwicklung zu berücksichtigen. Ebenso sind Konzepte wie ‚Explainable AI‘ gefragt, damit mit steigender Komplexität der KI nicht automatisch eine zunehmende Verantwortungslücke auftritt: Die Frage nach Verantwortungsübernahme, gerade bei Therapieentscheidungen, ist natürlich berechtigt und muss gestellt werden, aber sie darf nicht als Ausrede für die Nicht-Adoption oder Nicht-Beschäftigung mit den neuen Technologien dienen.
Schwerfällige Bürokratie bremst digitalen Umbau aus
Wieso kommen also die tollen Neuerungen, die wir mit Staunen zur Kenntnis nehmen und die uns von Start-ups, internationalen Unternehmen oder im Forschungskontext bzw. in wissenschaftlichen Studien vorgestellt werden, nicht zeitnah in die Anwendung? Brauchen wir sie nicht? Sind sie inkompatibel mit den engen regulatorischen Schranken? Liegt es an der sektoralen Aufgliederung oder gar am stationären Versorgungssektor? Liegt es am Personal oder den Patienten oder (und das ist natürlich immer wahr) am fehlenden Geld? Liegt es am Datenschutz oder warum bewegen wir uns auf eine Schlusslicht-Position der digitalen Transformation im internationalen Vergleich zu und verharren in der Digitalwüste?
Ein CEO eines Medizin-IT Start-ups berichtete kürzlich, dass ein Verkauf seiner Produkte an Krankenhäuser fast unmöglich sei und fragte, ob die „Regel der 1“ für die Integration eines Medizinproduktes in eine Krankenhaus-IT bekannt sei. Es dauere mehr als eine Woche, bis der IT-Administrator auf seine E-Mails antwortete. Es erfordere mehr als einen Monat KH-spezifischen Softwareentwicklungsaufwand, mehr als ein Jahr bis zur Vertragsunterschrift und noch ein zusätzliches Jahr für die komplette Integration in die bestehenden (oft geradezu antiken) IT-Infrastrukturen. Wenn dies denn überhaupt gelingt.
Die digital transformierte Lebenswelt muss sich auch in der Arbeitswelt wiederfinden
Spätestens jetzt werden Sie sich am Kopf kratzen und denken: Ist das nicht die Autorin, die in Sachen Interoperabilität, Smart Hospital und digitale Transformation unterwegs ist? Ja, korrekt, ich bin es und lassen Sie mich daher noch einmal zusammenfassen: Wir haben realisiert, dass sich die digitale Transformation nicht von alleine macht. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Industrie haben sich endlich auf den Weg gemacht. Jeder Einzelne sowie jede Organisation muss daraus aber entsprechende Schlüsse ziehen. Geschäftsmodelle ändern, Change Prozesse anstoßen, Qualifizierungsbedarfe erkennen, Transformation aktiv anstoßen und unterstützen und vor allem die Menschen mitnehmen: Medizinethische Überlegungen und Vertrauensbildung gehören dazu, aber auch eine (mitunter große) Portion Mut.
Dies beinhaltet eine neue Führungskultur, flache Hierarchien und raschere Entscheidungsprozesse, alles made in Germany. Die Abstimmung mit den Füßen des medizinischen Personals wird das Zünglein an der Waage sein. Die digital transformierte Lebenswelt muss sich auch in der Arbeitswelt wiederfinden, damit der Frust von Telefon- und Papierkrieg sich in die Freude an digital-unterstützter, empathischer Medizin wandeln kann. Gesundheitsversorgung muss raus aus der Digitalwüste!
Quelle: Dr med. Anke Diehl 2024. Thieme